Abchasien

 

1992 eskalierte der abchasisch-georgische Streit um die politische Zuordnung der Schwarzmeerrepublik zu einem blutigen Krieg. Abchasien, das nach dem Unionsvertrag von 1922 als "vertragliche SSR" im Bestand der Georgischen Republik der Transkaukasischen Föderation angehört hatte und damit Moskau und Tbilisi gleichermassen unterstellt war, wurde 1930 als autonome Republik, also mit einem herabgesetzten Autonomiestatus, endgültig Georgien eingegliedert. Diese von abchasischer Seite nie akzeptierte Regelung, setzte das legitim gewählte Parlament der Schwarzmeerrepublik im Juli 1992 einseitig ausser Kraft, als es die Wiedereinführung der Verfassung von 1925 beschloss, die den Status von 1922 festschreibt und Abchasien als SSR ausweist (FR v. 19.08.1992, S.2). Georgien wertet diesen Schritt als Verletzung seiner territorialen Integrität, zumal Abchasien den Wunsch geäussert hat, als Republik der Russländischen Föderation beizutreten.

 

Im Zusammenhang mit der Annahme neuer Verfassungen der Unionsrepubliken hatte Abchasien bereits 1978 den Wunsch geäussert, aus der Georgischen SSR auszutreten und in die RSFSR aufgenommen zu werden. Tbilisi reagierte darauf mit der Gründung einer Abchasischen Universität in Suchum 1979 und der Schaffung von Möglichkeiten für die Ausstrahlung abchasischer Fernsehsendungen. Nachdem sich 1988 Vertreter der abchasischen Nationalbewegung mit einem Schreiben an die XIX. Parteikonferenz der KPdSU gewandt hatten, in dem sie darum baten, Abchasien von Georgien zu lösen und in den Status einer SSR zu heben (Gelaschwili 1993, S. 88), wurde im März des darauf folgenden Jahres auf einer Zusammenkunft tausender Abchasen in Lychny eine entsprechende Resolution an M. Gorbatschow verabschiedet (Mikadze 1992, S. 5). Nur kurze Zeit darauf löste der Beschluss des Ministerrats der Georgischen SSR über die Gründung einer georgischen Filiale der Staatlichen Universität Tbilisi in Suchum heftige Protestaktionen auf abchasischer Seite aus, die im Juli 1989 in schweren Zusammenstössen zwischen Abchasen und Georgiern gipfelten (Ge-/asc/w;/(1993,S.93ff.).

 

Aktionen wie die mit abchasischem Einverständnis erfolgte Versetzung sowjetischer Fallschirmjägereinheiten nach Suchum im Mai 1991 (Halbach 1992, S.25) verstärkten die abchasisch-georgischen Differenzen, denen der nationalistische Führungsstil Gamsachurdias zwischen Oktober 1990 und Januar 1992 ohnehin erheblichen Vorschub leistete.

 

Obwohl die Geschichte Abchasiens eng mit der Georgiens verbunden ist, sind die abchasischen Ansprüche historisch durchaus begründbar. Vor der Vereinigung mit Georgien im 10. Jahrhundert bestand ein unabhängiges Abchasisches Königreich, 1810 - immerhin neun Jahre nach Georgien -wurde Abchasien russisches Protektorat und befand sich seit seiner Eingliederung in das Russische Reich 1864 bis zur Proklamation der Abchasischen SSR 1922 unter direkter russischer Verwaltung.

 

Abgesehen von der historischen Entwicklung territorialer Zuständigkeiten stehen in sprachlicher Hinsicht die Abchasen den Tscherkessen und Kabardinern näher als den Georgiern, da sie ethnolinguistisch der nordkaukasischen Sprachgruppe zuzuordnen sind, während die Georgier zur südkaukasischen Sprachgruppe gehören. In der Glaubensrichtung unterscheiden sich die Abchasen von den überwiegend christlichen Georgiern nur bedingt. Etwa je zur Hälfte sind die Abchasen georgisch-orthodoxe Christen und sunnitische Muslime (Benningsen. Wimbush 1979, S. 216)."(1)

 

Brisant ist die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Abchasiens. Nach quantitativen Gesichtspunkten bilden die Abchasen in ihrer Republik mit einem Bevölkerungsanteil von nur 18 % (1989) eine Minderheit. Dem stand zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung ein georgischer Bevölkerungsanteil -überwiegend Mingrelier- von etwa 45% gegenüber. Russen und Armenier waren 1989 mit je 14 % vertreten (Abb. 14). (Die Flüchtlingsbewegungen im Zusammenhang mit den abchasisch-georgischen Auseinandersetzungen 1992/93 haben zu einer Veränderung dieser Proportionen geführt.)

 

Die Hauptursache der Zunahme des georgischen Bevölkerungsanteils seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind unterschiedliche Bevölkerungsbewegungen. Zwischen 1840 und 1878 wurden mehr als 100 000 Abchasen (und Abasiner) in mehreren Etappen in die Türkei umgesiedelt"(2), während seit Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Georgier (vorrangig Mingrelier) und Russen, in geringerem Masse Griechen, Esten und Deutsche angesiedelt wurden (Inal-ipa 1990, S. 44) (3). Die Deportationen betrafen die abchasische und abasinische Bevölkerung vor allem im Norden und Nordwesten Abchasiens. Die Ansiedlung der "neuen Bevölkerung" erfolgte zum grossen Teil in den Städten entlang der Küste (Suchum, Anaklia, Otschamtschira, Novi Afon, Gudauta, Pizunda, Gagra). Neben zahlreichen Neugründungen von Siedlungen wurden vielfach auch abchasische Ortsbezeichnungen durch russische ersetzt.

 

Moskau verfolgte mit dieser Politik nicht nur die "wirtschaftliche Eroberung" der hinzugewonnenen Territorien, sondern hatte auch die Errichtung neuer russischer Militärstützpunkte an der strategisch günstigen Schwarzmeerküste Abchasiens im Visier. Die Umsetzung dieser Ziele erforderte im Zusammenhang mit einer Russifizierung eben auch die Ansiedlung einer "im politischen Sinne verlässlichen -russischen, B.P.- Bevölkerung" (Inal-ipa 1990, S. 45). Den Abchasen war im Fall einer Rückkehr aus der Türkei die Ansiedlung an der Küste untersagt.

 

Im Süden Abchasiens begann mit der Einwanderung von Mingreliern schon vor der russischen Eroberung die Herausbildung einer ethnischen Mischbevölkerung; eine zunehmende Assimilation der ansässigen abchasischen Bevölkerung an die Mingrelier war die Folge. Als Migrationstimuli wirkten dabei sowohl die relative Landknappheit in Mingrelien als auch der Ausbruch von Epidemien, so der Pest 1811 in Imeretien, Gurien und Mingrelien. Nicht zuletzt beeinflusste der Verkauf von Bauern an abchasische Adlige und die Gefangennahme mingrelischer Bauern durch abchasische Feudalherren bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft (1866 in Mingrelien, 1870 in Abchasien) die ethnische Bevölkerungsproportion im südlichen Abchasien.

 

Hauptsächlich migrationsbedingt war das Wachstum des georgischen Bevölkerungsanteils auch in sowjetischer Zeit. Das zeigt ein Vergleich der Werte der Bevölkerungszunahme bei Abchasen und Georgiern für Abchasien und für die gesamte Sowjetunion.(4) Danach lag zwischen den Volkszählungen 1926 und 1970 in Abchasien die Bevölkerungszunahme bei Georgiern z.T. beträchtlich über und bei Abchasen (bis 1989) geringfügig unter dem Zunahmewert für die gesamte Sowjetunion. Das absolute Bevölkerungswachstum zeigt bei Georgiern und Abchasen sowohl im Gesamtzeitraum 1926 bis 1989 als auch für die Abschnitte zwischen den Volkszählungen positive Werte. Relativ gesehen sank der abchasische Bevölkerungsanteil von 28 % im Jahr 1926 auf 18 % im Jahr 1989. Der Anteil der georgischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung stieg im gleichen Zeitraum von 33,5 % auf 46 %.

 

Dass Georgien trotz der georgisch dominierten demographischen und kulturellen Situation in der autonomen Republik abchasische Interessen nicht ignorieren kann, zeigen die Unruhen zu Beginn der neunziger Jahre nur allzu deutlich. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Konsequenzen, die eine politische Souveränisierung Abchasiens und seine Ausgliederung aus dem georgischen Territorialbestand für die Republik Georgien nach sich ziehen würde.

 

Der Anteil Abchasiens am Territorium Georgiens beträgt zwar "nur" 12%, dennoch würde Georgien bedeutende wirtschaftliche Einnahmequellen verlieren. Abchasien gehörte bislang zu den ertragreichsten Anbaugebieten von Tabak, Tee und Zitrusfrüchten. Den wichtigsten Industriezweig bildete die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. Bedeutend sind auch die Vorkommen an verkokbarer Kohle bei Tkuartschal, die bislang eine wichtige Rohstoffgrundlage für die Eisenerzverhüttung in Rustavi darstellten. Der Tourismus in den Badeorten an der abchasischen Schwarzmeerküste war für Georgien ebenso ein einträgliches Geschäft.

 

Im Falle eines Austritts Abchasiens ergäben sich für Georgien auch in infrastruktureller Hinsicht erhebliche Nachteile. Das betrifft sowohl den Zugang zum Schwarzen Meer als auch die verkehrstechnische Anbindung an Russland. Immerhin entfielen dann reichlich 50 % der "georgischen" Küste unter abchasische, bei einem Anschluss Abchasiens an Russland unter russische Territorialhoheit, darunter auch der Hafen von Suchum. Die einzige Eisenbahnlinie und eine der drei Strassenverbindungen zwischen Georgien und der Russländischen Föderation verlaufen über abchasisches Territorium.

 

Der Verlust Abchasiens würde für Georgien letztlich auch die Einbuße militärstrategischer Positionen am Schwarzen Meer bedeuten. Streitobjekt ist u.a. der Marinehafen Otschamtschira, den Georgien zwar von der sowjetischen Armee übernommen hat, der aber auf abchasischem Territorium liegt.

 

Seit 1992 zeigt der abchasisch-georgische Konflikt die deutliche Tendenz einer politischen Ausweitung. Das belegen neben dem Eingreifen russischer Truppen vor allem die an der Seite Abchasiens kämpfenden nordkaukasischen Freiwilligenverbände, deren grösster Teil aus Tschetschenien kommt. 1992 hatten die Konföderation der Bergvölker des Kaukasus, Tatarstan und Baschkirien im Falle eines weiteren Vordringens georgischer Truppen auf abchasisches Territorium, Georgien mit Wirtschaftssanktionen gedroht. Georgien erhält jährlich 500,000 Tonnen Erdöl bzw. Kraftstoffe aus Tatarstan, Baschkirien und Tschetschenien (Jemeljanenko 1992, S. 4).

 

Abb. 14: Abchasien - Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung 1886 bis 1996

 

1886 1897 1926 1939 1959 1979 1989 1996*
Abchasen 59,000 58,700 55,900 56,200 61,200 83,100 93,300 120,000

Georgier

4,000

25,700

67,500 92,000 158,200 213,300 239,800 85,000

Russen

1,000

6,000

20,500 60,200 86,700 79,700 74,900 36,200

Armenier

1,300

6,500 30,000 49,700 64,400 73,300 76,500 35,700

Griechen

2,000

5,400 27,100 34,600 9,000 13,300 14,700 2,500

Andere

1,500

3,900 11,000 19,200 25,200 23,400 25,800 20,500

Summe

68,800

106,200 212,000 311,900 404,700 486,100 525,000 304,900

 

*Diese Angaben sind Schätzwerte. Der hohe Anstieg der Zahl der abchasischen Bevölkerung, ist darauf zurückzuführen, dass die Abchasen, die zuvor als Georgier geführt wurden, wieder als Abchasen geführt werden.

 

(1) Das genannte quantitative Verhältnis zwischen christlichen und muslimischen Abchasen bezieht sich ausschliesslich auf die Abchasische Republik. Die in der Türkei lebenden Abchasen sind überwiegend Muslime.

 

(2) Ein Teil der Abchasen liess sich im Gebiet Batumi nieder, das die türkische Regierung seit 1866 an abchasische Emigranten verpachtete. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts lebten im Gebiet Batumi ca.100 000 Abchasen     (Inal-ipa, 1990, S. 44). Es ist anzunehmen, dass es sich bei den heute in der Adscharischen Republik lebenden Abchasen um Nachfahren dieser Emigranten handelt. Für die Adscharische SSR, die den nördlichen Teil des ehemaligen Gebietes Batumi umfasst, sind in den Ergebnissen der Volkszählung von 1979, 1508 Abchasen genannt.

 

(3) In der Umgebung von Suchum entstanden 1879 drei deutsche Siedlungen: Gnadenberg, Lindau und Neidorf (Inal-lpa 1990, S. 49).

 

(4) Ein solcher Vergleich ist unter dem Vorbehalt der Vernachlässigung von Aussenwanderungssalden möglich. Da eine die Grenzen der früheren Sowjetunion überschreitende Zu-und Abwanderung praktisch keine Rolle gespielt hat, kann die Sowjetunion für den oben angeführten Vergleich von Werten der Bevölkerungszunahme bei ethnischen Gruppen als relativ geschlossenes System angesehen werden. Dem Vergleich liegen die Zeiträume zwischen den Volkszählungen zugrunde, wobei die Zeiträume nicht einheitlich sind. Für die in Betracht kommenden ethnischen Gruppen (Abchasen, Georgier, Russen) wurden je Zeitraum zwei Werte der Bevölkerungszunahme ermittelt, ein erster für Abchasien, ein zweiter für die gesamte Sowjetunion.

 

Hauptquelle zur Vorbereitung dieses Textes: Ethnisch-Territoriale Konflikte in Kaukasien - Barbara Pietzonka, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden, 1995